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2002 - 2004
Dora Bruder - Kulissen - Zeit Perlen

nach dem Roman von Patrick Modiano: "Dora Bruder", Paris, Gallimard, 1997
ist die erste Serie zum Zyklus Zeit Perlen (2004 - 2010), entstand zwischen 2002 und 2004 und ist die einzige Serie im Zyklus welche sich nicht mit den Metamorphosen des Ovid beschätigt, sondern mit einer verschwundenen Jugendlichen im Paris des Dezember 1941.
Die hier entwickelten "Kulissen"-Bilder prägen aber den gesamten Zyklus bis 2010 und waren komositorisch maßgeblich für die Gestaltung der Micro Oper: Zeit Perlen einer Idee für das Haus der Musik in Wien.
JD, 2010


Patrizia Giampieri-Deutsch, GEDÄCHTNIS UND WAHRNEHMUNG und die Bilder des Johannes Deutsch

1. VERGESSEN, ODER SICH DOCH DARAN ERINNERN?
Der frankophone Schriftsteller Patrick Modiano vermag - so nachhaltig wie der ans Schwarze Meer verbannte Ovid - den Künstler Deutsch in ein stummes, verstörendes Gespräch zu verstricken.
In Livret de famille beschreibt Modiano die Spannung zwischen seiner unnachgiebigen Suche nach der Vergangenheit und der Sehnsucht nach dem Vergessen, schwingend zwischen den Polen obsessiver, dokumentarischer Rekonstruktion und lindernder Amnesie […]

Es sind junge Männer – semi-autobiographische Doppelgänger -, junge Frauen, einfach Männer, von der Zeit unberührt gebliebene Frauen, die namenlos, anonym, unter Decknamen getarnt unterwegs mal durch die Gassen verdunkelter Metropolen - Paris, London, Nizza - , mal durch die Tücken der französischen Provinz ziehen, verloren auf der Flucht eilen oder sich im Stillstand der Zeit verbergen: ihre Zeitlichkeit ist die prekäre Jetzt-Zeit des Erlebens, bis sie vom Sog der Weltgeschichte erfasst und verschlungen werden.
Mag die gelegentliche Linderung durch Äther, Morphium oder Flucht-Tagträume manchen rekurrierenden Figuren als Ausweg freistehen, bricht Modianos kompulsive Spurensuche im Ich-Erzähler von Dora Bruder durch und reißt die Geschichte von Dora aus dem tiefsten Vergessen. Dieser Roman hat in den Bildern von Johannes Deutsch nachhaltige Zeichen hinterlassen. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, Freiheit und Liebe suchend, lief während des Winters 1941 aus ihrem Versteck im Internat fort. Das unschuldige Streben nach Glück vereitelt auch die letzte prekäre Geborgenheit. Dora fiel in die Fänge der Pariser Okkupation, wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Doras individuelles Los, mit dem sich der Ich-Erzähler identifiziert, ist mit einem Netz unzähliger - „hunderte[r] und aberhunderte[r]“ - verwandter Schicksale verwoben, für die es ebenso - dank eifriger Bürokratie – kein Entrinnen gab. Ausgehend von Doras partikulärer Tragödie rekonstruiert Modiano ein Gesamtbild der unerbittlichen Verfolgung, Demütigung und Auslieferung durch Besatzungsbehörden und Kollaborateure. Die Bergung des Verschütteten läuft über die rigorose Benennung der Topografie, der Menschennamen und der Orte. Modianos literarisches Mahnmal restituiert anonymen Opfern zumindest Namen, nennt die Orte des Verbrechens, entzieht sie der Vergessenheit.
Modianos Gebrauch der Literatur, der Fiktion stellt sich im Dienste der Arbeit an der Erinnerung: an seinem autobiografischen Gedächtnis werkend, erschließt er die Risse der Weltgeschichte. Eigentlich schreibt Modiano Englisch in französischer Sprache, um die Sprache zu jener Disziplin zu zwingen, durch die das Unsagbare festgehalten und für das Weltgericht entschlüsselt und protokolliert werden kann.
Umsonst sucht man bei Modiano jenen pietätlosen Blick des affektierten Jahrmarktes des Bösen: gierigen Erwartungen bleibt jegliche Erfüllung untersagt.
Ist das Andenken eines Schriftstellers oder eines Künstlers ans Vergängliche überhaupt „zeitgemäß“? Kann Poesie nach Auschwitz gedichtet, „schöne“ Kunst geschaffen werden? Lassen sich solche Fragen nicht umkehren? Wirkt das „transgressiv“ Gewaltsame nach der Shoah nicht wie etwas, das es mit dieser aufnehmen möchte, ähnlich wie eine vergeblich buchstabierte Schulübung, die sich am Unübertrefflichen der Weltgeschichte emporzuarbeiten versucht? Sind nicht gegenwärtige Ästhetik und Epik der Gewalt eine Art krude Wiederkehr des Verdrängten, sein nachträglicher Triumph? Verloren ist der Krieg, jene Anschauung der Lächerlichkeit preisgegeben: wohin aber mit manchen Mythologien des Bösen, den Phänomenologien des Hasses und der Vernichtung, die gesellschaftsfähig zu reüssieren vermögen?


2. WAHRNEHMEN, ODER VERSTEHEN?
Was für sonderbare Gegenstände sind im Grunde Bilder! Richard Gregory verführt uns, den Blick der Kunstgeschichte einmal abzulegen und tief ins kognitive Feld einzutauchen (Gregory 2009 und 2010). Er vergleicht die Bilder der Kunst mit all jenen Alltagsgegenständen, mit denen man gewöhnlich zu tun hat. Bilder würden wahrlich kaum einen Sinn ergeben, ohne die Erfahrungen unserer Interaktion mit Objekten. Sehenkönnen was das Bild darstellt, hängt doch mit unseren frühen Erlebnissen mit greifbaren, zugänglichen Objekten und mit unserer emotionalen Bindung zu Menschen (z. B. beim Anblick eines Porträts) ab.
Verstehen, was (neuro-)physiologisch geschieht, wenn wir „Erfahrungen“ haben, bestärkt uns im Gefühl der Singularität unserer Wahrnehmung und ihrer partikulären Verbundenheit mit unserer Geschichte, weil – so Eric Kandel, neurobiologischer Schutzpatron der Psychoanalyse und spiritus rector des Johannes Deutsch - „die Verbindungen zwischen den Zellen nicht festliegen, sondern durch Erfahrung, durch Lernen verändert werden können. Das Vermögen der Erfahrung, die Verbindungen in unserem Gehirn zu ändern, bedeutet, dass sich das Gehirn jeder Person […] von dem Gehirn jeder anderen Person […] unterscheidet, weil jede Person […] eine unverwechselbare Lebens- und somit Lerngeschichte hat.“ (Kandel 2006, S. 309)
Wenn Wahrnehmungen im Allgemeinen - und Bilder insbesondere - keine Abbildungen sind, können sie als „Illusionen“ definiert werden? Zugegeben, neurobiologisch kopiert das Gehirn die Außenwelt nicht einfach wie eine dreidimensionale Photographie. Erst nachdem das Gehirn sie in ihre Bestandteile zergliedert hat, wird sie zusammengefügt: „Beim Scannen einer visuellen Szene etwa zerlegt das Gehirn die Form von Gegenständen getrennt von ihren Bewegungen und beides wiederum getrennt von der Farbe der Gegenstände, bevor dann das vollständige Bild nach den eigenen Regeln des Gehirns wieder zusammengesetzt wird.“ (Kandel 2006, S. 308) Werden der Theorie der direkten Wahrnehmung von der neurobiologischen Forschung feste Grundlagen entzogen, wäre es jedoch ein Kurzschluss, unsere Perzepte als „Illusionen“ zu quittieren, nur weil Wahrnehmungen indirekt auf die Welt der Objekte bezogen sind: als ihre allgemeine Basis dienen immerhin die neuronalen Signale der Sinne, die dann von unserer vorausgegangenen Erkenntnis abhängig sind, um den aktuellen Signalen einen passenden Sinn zu verleihen. Ist z. B. die angenommene Erkenntnis falsch oder der gegenwärtigen Situation nicht angemessen, werden die Signale der Sinne missverstanden und es entstehen Illusionen. Illusionen dürfen nicht mit optischen Phänomenen - wie z. B. einem Regenbogen - verwechselt werden, die mit den Gesetzen der Optik erklärbar sind.
Zurück zu den Bildern: auch wenn Bilder kaum wie die jeweils von ihnen gerade evozierten „anderen Welten“ aussehen, können sie nicht als „nichts Anderes als Illusionen“ aufgefasst werden. Ein guter Grund dafür ist: sie sind nicht irreführend, vielmehr wirken sie als Stellvertreter für jene evozierten Realitäten, was ausreichend mit „Wahrheit“ zu tun hat (Gregory 2010)!
Auch wenn auch Bilder im Allgemeinen keine Illusionen sind, bedienen sich KünstlerInnen doch der Illusionen (Anamorphosen, unmögliche und paradoxe Objekte, tromp l’œil, usw.), die sie gekonnt einzusetzen vermögen, um unser visuelles System damit zu konfrontieren.
Das alte Prinzip des Hermann von Helmholtz lässt visuelle Phänomene verstehen: durch die Wahrnehmung werden den Bildern Objekte zugeschrieben. Das hilft zwar, viele Illusionen als falsche Zuschreibungen zu verstehen, jedoch unternimmt Gregory eine detaillierte Taxonomie der Illusionen der visuellen Wahrnehmung nach Arten (ausgehend vom Nichtsehen, über weitere Illusionen wie instabile Bilder, verwirrende Zweideutigkeit, alternierende Zweideutigkeit, Entstellungen, paradoxe Objekte, fiktive Objekte, bis hin zu den „anderen Welten der Objekte“).
Gregory versucht auch das breite Spektrum von Ursachen visueller Illusionen zu klassifizieren, welche auf verschiedenen Ebenen liegen können: erstens auf der Stufe der passiven physiologischen Rezeption von Reizen, zweitens auf der Stufe einer von „Spuren“ oder „Schlüsseln“ ausgehenden, aktiven konstruktiven Wahrnehmung, oder drittens auf der begrifflichen Ebene unserer Denkauffassungen und der Kommunikation abstrakter Ideen durch Symbole (Gregory 2010).
Bei Illusionen werden im ersten Fall die allgemeinen physiologischen bzw. psychologischen Regeln, im zweiten Fall die Erfahrung der Objekte in der Welt (Menschen und Tiere inbegriffen) und im dritten Fall das begriffliche Verstehen herausgefordert.
Was die Schaffung einer zweiten Realität bzw. „anderer Welten der Objekte“ betrifft - werden diese als Illusion oder nicht als solche verstanden - können KünstlerInnen auf der Ebene der physiologischen Regeln Reize auf eine Weise kombinieren, dass sie damit dem neurophysiologischen System der BetrachterIn „Stichworte“ oder „Winke“ geben, die Ecken, Formen, Farben und Bewegungen signalisieren.
Auf der Ebene der psychologischen Regeln können KünstlerInnen jene visuellen „Spuren“, „Schlüssel“ einsetzen, die auf Grund von vergangenen Erfahrungen der BetrachterIn auf das wahrscheinliche Vorhandensein des dargestellten Objektes hinweisen.
Auf der Ebene der Erkenntnis der Objekte der Welt werden den Gegenständen nicht-optische Eigenschaften (z. B. Härte, Leichtigkeit usw.) und den Gesichtern im Bild Eigenschaften (z. B. drohende Gefährlichkeit, Belohnungsversprechungen usw.) verliehen.
Auf der Ebene begrifflichen Verstehens können KünstlerInnen „andere Welten“ in einem anderen Raum und Zeit evozieren (Gregory 2010).
Die BetrachterInnen tappen in die geschaffenen „anderen Welten“ der Kunst auf perzeptuelle Weise: Sie sehen und erleben die Wirklichkeit, in die sie die KünstlerInnen versetzen wollten. Das geschieht, nach Gregory, keinesfalls weil ihnen ein begriffliches Verständnis der Phänomene abrupt abhanden gekommen ist. Äußerst selten vermag eine begriffliche Entschlüsselung die Illusionen der Wahrnehmung zu zerstören. Wahrnehmungen und begriffliche Auffassungen sind – so Gregory - in unserem Geist/Gehirn gut genug getrennt, so dass wir Illusionen, auch wenn wir sie als solche erkannt, gar restlos aufgeklärt haben, weiter nachhaltig erleben und genießen können (Gregory 2009).
Conclusio: Weder das eingesetzte Wissen des Johannes Deutsch, noch die Wissenschaft der BetrachterInnen stehen dem Erleben seiner Kunstwerke im Wege.


Auszug aus:
"Johannes Deutsch. Zeit Perlen",
Wien: Verlag Johann Lehner 2010, ISBN 978-3-901749-95-7
Mit Beiträgen von Peter Bogner (Hg. für das Künstlerhaus Wien), Michael Braunsteiner, Patrizia Giampieri-Deutsch und Margit Zuckriegl (Kuratorin der gleichnamigen Ausstellung)


Veranstaltung, Ort: Wien

Werkegruppe Dora Bruder - Kulissen